In den blauen Stunden, Listening Event
Zwischen den Träumen
Ob sie wohl jemals schläft
In den Schlaf fallen

Graduate Show

● 2024 ● HFBK ● Hamburg (GER)

“You learn to be transparent. Motionless. Still. Non-existent. You learn how to go on sitting. Go on lying down. Go on standing up. You learn to look at paintings as if they were parts of a wall. And at walls as if they were pictures where you effortlessly decipher thousands of roots. Unavoidable labyrinths. Languages no one dares to read. Ruined countenances.” — Georges Perec, Un homme qui dort, Verfilmung 1974, englische Übersetzung

Der Begriff der Blauen Stunde beschreibt den Zeitraum während der abendlichen oder morgendlichen Dämmerung, in dem sich die Sonne so tief am Horizont befindet, dass das blaue Lichtspektrum den dämmernden Himmel noch beziehungsweise schon dominiert. Zum Zeitpunkt der blauen Stunde ist die Dunkelheit der Nacht noch nicht eingetroffen beziehungsweise schon wieder vorbei. Nur selten handelt es sich bei der blauen Stunde um einen Zeitraum mit einer tatsächlichen Dauer von 60 Minuten. Abhängig von der Gesamtlänge der Dämmerung, wird sie vom Tiefenwinkel der Sonne am Horizont bestimmt und variiert je nach geografischer Breite des Beobachtungsortes und dem jahreszeitlich veränderlichen Tagbogen. In Mitteleuropa dauert die blaue Stunde ungefähr 30 Minuten zur Tag-und-Nacht-Gleiche und 50 Minuten zur Sonnenwende. In tropischen Regionen dauert sie mit geringeren Schwankungen circa 20 Minuten. In den weißen Nächten am Polarkreis kann sie bis zu fünf Stunden dauern. Je nach Auftreten kündigt sie das Nahen des schläfrigen Mantels der Nacht an, der sich über ihre Betrachter*innen legen wird oder aber, sie warnt die Nachtschwärmer*innen und Träumenden, dass es bald Zeit sein wird, sich dem Angesicht des Tages zu stellen. Neben der blauen Stunde gibt es den Begriff der goldenen Stunde, die die Zeit kurz nach Sonnenaufgang beziehungsweise vor Sonnenuntergang beschreibt. Im Gegenteil zur goldenen Stunde ist die blaue Stunde bei bedecktem Himmel sichtbar, denn auch Wolken ermöglichen seine charakteristisch blaue Färbung.

“Sobald du die Augen schließt, beginnt das Abenteuer des Schlafs”, schreibt Georges Perec in Un homme qui dort. Seinen Spuren folgend, bewegt sich In den blauen Stunden durch schlafwandlerische Zustände des Zwielichts. Zwischen Abenddämmerung und Nacht zieht die Dämmerung Schlieren von Wolken, aus denen es Geschichten flüstert. Diese stellen Fragen nach dem Unterschied von Treiben und Stillstand, von Abwesenheit und Präsenz, von Traum und Realität, ohne dabei eine eindeutige Antwort provozieren zu wollen. Die blaue Stunde stülpt eine ultramarinfarbene Glasglocke über die Welt, die Stimmen und Geräusche weit entfernt klingen lässt, beinah so, als befände man sich Unterwasser. So wie die blaue Stunde an sich einen Schwellenzustand von noch oder schon beschreibt, bewegen sich die gemalten Protagonist*innen wie geisterhafte Erscheinungen, an der Schwelle zur Wahrnehmung. Sie manifestieren sich nur auf Zeit. Für 20 oder 30, vielleicht 50 Minuten. Oder wenn du Glück hast vielleicht sogar fünf Stunden lang. Dabei bleibt unklar, ob sie einen festgelegten Zeitpunkt, oder vielmehr eine Chronologie von Momenten in Gleichzeitigkeit abbilden.

Genauso bleibt das Motiv der Gesten und Aktionen dieser Protagonist*innen unklar. Versuchen sie die knisternde Materie um sich herum zu ertasten, zu fassen und zu begreifen oder winken sie den Betrachter*innen vielmehr in apathischer Abwesenheit zu, während ihre Körper automatisch erlernte Abläufe reproduzieren, sie den Routinen ihres Alltags ziel- und absichtslos nachgehen?

Auch die Farbe, die den blauen Stunden ihren Namen gibt, ist mehrdeutig. “In German, to be blue — blau sein — means to be drunk. Delirium tremens used to be called the ‚blue devils,’ as in ‚my bitter hours of blue-devilism‘ (Burns, 1787). In England ‚the blue hour‘ is a happy hour at the pub. Joan Mitchell — abstract painter of the first order, American expatriate living on Monet’s property in France, dedicated chromophile and drunk, possessor of a famously nasty tongue, and creator of arguably my favorite painting of all time, Les Bluets, which she painted in 1973, the year of my birth — found the green of spring incredibly irritating. She thought it was bad for her work. She would have preferred to live perpetually in ‚l’heure de bleu.‘”, schreibt Maggie Nelson in Bluets. Folgt man Maggie Nelsons Bluets weiter, so kann die Farbe Blau in all ihren Facetten außerdem für Melancholie und Sehnsucht, für Depression und den Umgang mit dieser stehen – für etwas, in das man eintauchen, sich mutig hineinwerfen, in dem man baden, durch das man waten und in dem man stehen, aber dennoch etwas, das man niemals vollends halten oder greifen kann.

„[S]o sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht.“ — Johann Wolfgang von Goethe, zitiert von Maggie Nelson in: Bluets

Ist es folglich also die Melancholie, die in den blauen Stunden in Erscheinung tritt? Und inwiefern lässt sie sich im blauen Licht, wenn die gemalten und begrifflichen Konturen schon oder noch knistern und schwirren von der Trauer abgrenzen?

„Damit die Trauer wirklich beginnen kann, so Derrida in Marx’ Gespenster, muss der Tote beschworen werden und ‚die Beschwörung sich versichern, daß der Tote nicht wiederkehrt [...].‘ Doch gibt es diejenigen, die sich weigern der Beisetzung zuzustimmen [...] Das Gespenstische, Spukende lässt sich als misslungene Trauer deuten. Darin schwingt die Weigerung, das Phantom daranzugeben oder auch — was bisweilen auf dasselbe hinauslaufen kann — die Weigerung des Spuks, von uns abzulassen. Das Gespenst wird es uns nicht gestatten, uns in und mit den mediokren Befriedigungen einzurichten, die uns eine vom kapitalistischen Realismus regierte Welt bietet. [...] Die Art von Melancholie, die mir vor Augen steht, zeichnet hingegen nicht Resignation aus, sondern vielmehr die Weigerung nachzugeben — das heißt die Weigerung, sich dem anzupassen, was unter den gegenwärtigen Bedingungen ‚Realität‘ heißt, selbst um den Preis, sich in dieser unserer Gegenwart als Außenseiter zu fühlen.“ — Mark Fisher in: Gespenster meines Lebens

Photos by Eliza Wagener and Tim Albrecht.